Solidarische Ökonomie: Voraussetzung für gutes Leben!

Wenn „gutes Leben“ mehr sein soll als ein individueller Lebensstil, dann darf sich dieses gute Leben nicht nur im Privat- und Freizeitbereich abspielen: Wenn es nicht auch Bedeutung für den Kernbereich des Wirtschaftens hat, dann bleibt es ein Rand- und Kompensationsphänomen.

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von Dr. Gerd Rudel

Wenn „gutes Leben“ mehr sein soll als ein individueller Lebensstil, dann darf sich dieses gute Leben nicht nur im Privat- und Freizeitbereich abspielen. „It’s the economy, stupid!“, sagte schon Bill Clinton. Und das stimmt auch in Bezug auf das gute Leben: Wenn es nicht auch Bedeutung für den Kernbereich des Wirtschaftens hat, dann bleibt es ein Rand- und Kompensationsphänomen.

Und in der Tat gibt es ja schon seit vielen Jahrzehnten immer wieder und immer neue Versuche, auch unter den Vorzeichen kapitalistischen Wirtschaftens andere, alternative Formen der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zu institutionalisieren. Diese Versuche, für die sich der Sammelbegriff "solidarische Ökonomie"(1) eingebürgert hat, können durchaus unterschiedliche Intentionen und Zielsetzungen haben:

- Für viele Projekte und Initiativen geht es in erster Linie darum, ein individuelles Arbeitsumfeld zu schaffen, das eine sinnvolle Beschäftigung ohne die Zwänge üblicher Wirtschaftsbetriebe, vor allem also ohne die ansonsten übliche Profitorientierung, ermöglicht. Solche Projekte verstehen sich als „Inseln“ im kapitalistischen Mainstream, ohne an den grundsätzlichen Orientierungen dieses Wirtschaftssystems etwas ändern zu wollen oder zu können.

- Viele Betriebe der solidarischen Ökonomie verstehen sich aber als bewusste Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, wollen modellhaft zeigen, wie eine nachhaltige, gemeinwohlorientierte und solidarische Wirtschaft aussehen könnte. Gesellschaftsveränderung und individuelle Selbstverwirklichung gehen hier Hand in Hand.

Natürlich ist dies eine prototypische Unterscheidung. In der Realität finden sich zumeist Elemente beider Orientierungen in den jeweiligen Projekten. Zudem sind die Übergänge fließend. Im folgenden knappen Überblick wollen wir uns weniger mit den eher theoretischen Gesamtansätzen (z.B. Commons, Gemeinwohl-Ökonomie, Transition Towns etc. - vgl. dazu unsere Literaturhinweise) befassen, sondern die Bereiche beleuchten, in denen solidarische Ökonomie in Deutschland bereits relevant ist und in konkreten Projekten umgesetzt wird. Eine umfassendere Analyse der einzelnen Sektoren ist geplant.

1. Landwirtschaft & Ernährung: Die Produktion und der Konsum von Lebensmitteln ist schon „traditionell“ ein wesentliches Standbein solidarischer Ökonomie. Das Spektrum ist sehr breit: Lebensmittelkooperativen(2), Erzeugergenossenschaften, selbstverwaltete Dorfläden(3), Community Gardening(4) und – als Basis – die entsprechend bewirtschafteten Höfe. All dies ist zu nennen, wenn es um die gemeinschaftliche, nicht gewinnorientierte Herstellung und "Vermarktung" gesunder Öko-Lebensmittel geht. Die Organisationsformen sind dementsprechend vielfältig, von lockeren, informellen Einkaufsgemeinschaften über Vereine bis hin zu Genossenschaften ist hier alles vertreten.

2. Alternativen zur Geldwirtschaft: Im Zentrum alternativen Wirtschaftens stehen immer wieder Versuche, die Abhängigkeiten von der herkömmlichen Geldwirtschaft (Bank- und Kreditwesen) zu durchbrechen. Das geschieht auf der einen Seite durch die Etablierung von Regionalwährungen (vielleicht am bekanntesten: der „Chiemgauer“), mit dem die regionale Wertschöpfung unterstützt und dessen Negativzins für eine hohe Umlaufgeschwindigkeit und die Vermeidung von Spekulationsgeschäften sorgen soll. Auch Genossenschaftsbanken und Banken mit ethisch orientierter Geschäftspolitik gehören in diese Rubrik. Auf der anderen Seite sind die vielfältigen Versuche zu nennen,  das Geld völlig aus den wirtschaftlichen Beziehungen zu eliminieren. Tausch und gemeinsame Nutzung sind hierfür das Motto. Organisierte Tauschringe(5) gehören in diese Rubrik, Werkzeugbörsen,  Foodsharing-Initiativen(6) und auch etliche Ansätze der "share economy" (Mitfahrzentralen, couch-surfing, Car-Sharing u.a.).

3. Wohnprojekte und Lebensgemeinschaften: Auch dieser Bereich ist ein fast schon „klassisches“ Standbein der Alternativökonomie. Landkommunen haben eine Jahrhunderte alte Tradition, die spätestens mit der Hippie-Ära und der Alternativbewegung der 70er und 80er Jahre neuen Auftrieb bekamen. Aber auch aktuell haben solche Modelle alternativen Lebens und Wirtschaftens ihre Anziehungskraft nicht verloren: Das Öko-Dorf Sieben Linden und die Gemeinschaft Schloss Tempelhof mögen als Beispiele dafür genügen. Von Ansatz und Orientierung nicht so umfassend und ganzheitlich sind dagegen jene Projekte, die sich auf das Wohnen im engeren Sinne beziehen. Das Spektrum ist auch hier sehr breit: Kommunen, Wohngemeinschaften und Wohnprojekte (z.B.: bewusst generationenübergreifend und integrativ, manchmal auch spirituell oder politisch angehaucht), Baugemeinschaften und vor allem alte und neue Wohnungsgenossenschaften sind hier zu nennen.

4. Energieerzeugung: Dieses Feld ist erst in der jüngeren Vergangenheit ein Bereich alternativen Wirtschaftens geworden und im Prinzip ein Kind der „Energiewende“, dem Ausstieg aus der Atomkraft und aus den fossilen Energiequellen. Und hier ist der solidarischen Ökonomie erstmals ein "Einbruch" in vormals großindustrielle Strukturen gelungen, nicht zuletzt weil die erneuerbaren Energien mit ihrer prinzipiell dezentralen Struktur dies technologisch ermöglichten. Die Produktion von Öko-Strom ist zu einem nicht geringen Prozentsatz in Organisationsformen gelungen, die dem Bereich der solidarischen Ökonomie zuzurechnen sind (Energiegenossenschaften, Bürgerwindräder usw.)(7). Teilweise gibt es sogar Überschneidungen mit Punkt 4, wenn sich nämlich ganze Gemeinden als Ökodörfer verstehen (z.B. Bioenergiedorf Jühnde) oder sich gemeinsam für die Energiewende stark machen (z.B. die Schönauer "Stromrebellen", denen die Gründung der bürgereigenen EWS Schönau zu verdanken ist).

5. Bildung / Kultur / Gastronomie: Auch dies ist ein „altes“ Standbein der Alternativökonomie. Buchläden, Verlage und Druckereien, selbstverwaltete Kneipenprojekte, alternative Bildungseinrichtungen und Tagungshäuser, Medienprojekte, Künstlerkollektive, freie Schulen und Kindertagesstätten sind hier zu nennen. In jüngerer Zeit sind internetbasierte Projekte wie Lexika, Wörterbücher und Online-Archive dazu gekommen.

Schon dieser kurze Überblick macht zweierlei deutlich: Der Schwerpunkt der Projekte und Initiativen liegt eindeutig im Bereich der Dienstleistungsangebote. Und: Im Bereich der „klassischen“ industriellen Produktion - daran ändern auch die erwähnten Erfolge im Energiesektor prinzipiell nichts Wesentliches - konnte die solidarische Ökonomie bislang nicht Fuß fassen. Einen größeren metallverarbeitenden Betrieb, einen Autohersteller gar oder auch ein Chemie-Werk wird man vergeblich suchen.

Das hat natürlich mit dem Kapitalaufwand zu tun, der für eine derartige Produktionsweise erforderlich ist. Und die Protagonisten alternativer Wirtschaftsmodelle sind in der Regel nicht der Lage, diesen Aufwand aufzubringen. Und das liegt natürlich auch an der spezifischen Organisation (vor allem groß-) industrieller Produktionsprozesse (Automation, Fließbandarbeit), die auf Anhänger solidarischen Arbeitens eher abschreckend wirken dürften.

Dennoch: Wenn es Ansätzen solidarischen Wirtschaftens nicht gelingt, in die Kernbereich kapitalistischer Produktion vorzudringen, wird die solidarische Ökonomie auf Dauer ein Rand- und Nischen-Phänomen mit nur marginaler gesamtgesellschaftlicher Relevanz bleiben. Ob sich an dieser Feststellung möglicherweise mit neuen Produktionstechniken - Stichwort: Industrie 4.0 (8)- , die auch und gerade für kleinere Produktionseinheiten geeignet und damit im Sinne einer "kollaborativen Ökonomie"(9) auch für Ansätze solidarischen Wirtschaftens eher zugänglich sein dürften, etwas Grundlegendes ändern wird, bleibt abzuwarten.

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Anmerkungen, Links und Literatur:

(1) Vgl. den sehr informativen Überblick auf: http://www.solidarische-oekonomie.de/

(2) Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Lebensmittelkooperativen e.V

(3) Vgl. Dorfladen-Netzwerk. Bundesvereinigung multifunktionaler Dorfläden

(4) Vgl. Christa Müller (Hrsg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011

(5) Vgl. als Einstieg in die Thematik mit vielen weiterführenden Links: http://www.tauschring.de/hauptseite.php 

(6) Vgl. als Überblick und Einstieg: https://foodsharing.de/

(7) Vgl. z.B. auf Bundesebene das Bündnis Bürgerenergie und in Bayern Bürgerenergie Bayern e.V..

(8) Vgl. z.B. für Deutschland die regierungsoffizielle Plattform Industrie 4.0

(9) Vgl. Ulrich Petschow / Jan Peuckert: Kollaborative Ökonomie – Potenziale für nachhaltiges Wirtschaften. In: Ökologisches Wirtschaften 3.2016 (31), S. 14-16

Andrea Baier / Christa Müller / Karin Werner: Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld 2013

Harald Bender / Norbert Bernholt / Bernd Winkelmann: Kapitalismus und dann? Systemwandel und Perspektiven gesellschaftlicher Transformation. München 2012

Dill, Alexander: Gemeinsam sind wir reich. Wie Gemeinschaften ohne Geld Werte schaffen. oekom verlag München, 2012.

Susanne Elsen (Hrsg.): Solidarische Ökonomie und die Gestaltung des Gemeinwesens. Perspektiven und Ansätze der ökosozialen Transformation von unten. Neu-Ulm 2011.

Andreas Exner / Brigitte Kratzwald: Solidarische Ökonomie & Commons. Wien 2012

Christian Felber: Die Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wien 2014 (erweiterte Neuauflage)

Konny Gellenbeck (Hrsg.): Gewinn für alle! Genossenschaften als Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wie wir mit Genossenschaften den Kapitalismus überwinden. Frankfurt am Main 2012

Silke Helfrich (Hrsg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. München 2009

Silke Helfrich: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld 2012

Rob Hopkins: Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen. München 2014

Berthold Huber (Hrsg.): Kurswechsel für ein gutes Leben: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft. Frankfurt am Main/New York 2013

Annette Jensen / Ute Scheub: Glücksökonomie. Wer teilt, hat mehr vom Leben. München 2014

Reinhard Loske: Sharing Economy: Gutes Teilen, schlechtes Teilen? In. Blätter für deutsche und Internationale Politik 11/2015, S. 89-98

Clarita Müller-Plantenberg: Schritte auf dem Weg zur Solidarischen Ökonomie. Kassel 2011

Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften (Hrsg.): Wege Vorsorgenden Wirtschaftens. Marburg 2013

Marit Sademach: Regionalwährungen in Deutschland. Strategie, Hintergrund und rechtliche Bewertung. Baden-Baden 2012

Annette Schlemm (Hrsg.): Herrschaftsfrei wirtschaften: Eigentum überwinden, Produktionsverhältnisse, Aktionen und Alternativen, solidarische Ökonomie. Reiskirchen 2012