Wer heute Lebensmittel braucht, geht in den Supermarkt (oder – günstigstenfalls – in den Bioladen) und kann dort unter vielfältigsten Produkten aus aller Herren Länder auswählen. Tomaten im Winter, exotische Früchte aus Südamerika, Erdbeeren im Januar – alles kein Problem? Vielleicht doch..
von Dr. Gerd Rudel
Wer heute Lebensmittel braucht, geht in den Supermarkt (oder – günstigstenfalls – in den Bioladen) und kann dort unter vielfältigsten Produkten aus aller Herren Länder auswählen. Tomaten im Winter, exotische Früchte aus Südamerika, Erdbeeren im Januar – alles kein Problem? Vielleicht doch: Ob und wie die Erzeuger dieser Produkte von ihrer Arbeit leben können, davon wissen wir zumeist überhaupt nichts. Und wie und unter welchen Bedingungen die Lebensmittel hergestellt wurden, welche Umweltbelastungen beim Anbau und beim Transport entstanden sind, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis, selbst dann wenn sie ein Bio-Siegel tragen.
Das Solawi-Konzept[1]
Wer dazu eine Alternative sucht, wer eine bäuerliche Landwirtschaft erhalten will und gesunde, frische, saisonale Nahrungsmittel konsumieren möchte, dazu auch noch den direkten Kontakt mit den Erzeugern, sollte sich in einer der mittlerweile zahlreichen Initiativen[2] der „solidarischen Landwirtschaft“ (Solawi) engagieren. Das Solawi-Prinzip ist ebenso einfach wie bestechend: Nicht das einzelne Lebensmittel, das Endprodukt wird finanziert, sondern der gesamte landwirtschaftliche Betrieb. Konkret funktioniert das so: Ein (oder auch mehrere) landwirtschaftlicher Betrieb oder eine Gärtnerei schließt sich mit einer Gruppe von privaten Haushalten zusammen. Die Privathaushalte, die Abnehmer*innen also, verpflichten sich, einen festgesetzten, zumeist monatlich zu entrichtenden Betrag zu zahlen, mit dem die gesamten Kosten der landwirtschaftlichen Erzeugung abgedeckt werden. Im Gegenzug verpflichten sich die Erzeuger, ihren gesamten Ertrag an die Solawi-Gruppe abzugeben, wozu auch – soweit vom Solawi-Betrieb hergestellt – weiterverarbeitete Erzeugnisse wie Brot oder Käse etc. zählen.
Die Lebensmittel werden also nicht mehr „auf dem Markt“ (sei das ein Wochenmarkt oder ein Supermarkt) vertrieben, sondern landen – ohne Zwischenhandel – direkt in den Taschen und den Küchen der Abnehmer*innen. Jeder Privathaushalt erhält den gleichen Ernteanteil. Das bedeutet für die Verbraucher*innen zum einen, dass sie erntefrische Produkte aus der engeren Region bekommen und zudem einen sehr direkten Kontakt zu den Erzeuger*innen haben. Sie wissen, wo und wie die Nahrungsmittel angebaut werden, wer sie anbaut und zu welchen Kosten dies geschieht. Sie tragen damit zum Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld bei. Das mit dem Wechsel der Jahreszeiten sehr unterschiedliche Ernteangebot ermöglicht ihnen zudem einen engen Bezug zum Kreislauf der landwirtschaftlichen Produktion und auch – für viele: ganz neue! – Erfahrungen, was den wöchentlichen Speisezettel angeht. Denn da müssen zum Beispiel im Herbst rote Rüben, Blau- und Weißkraut, Wirsing und andere Kohlsorten verarbeitet werden. Und man probiert, schon um der Abwechslung willen, ganz neue Rezepte und Methoden der Lagerung und Haltbarmachung aus.
Die Verteilung der Ernte-Anteile wird in den einzelnen Solawi-Gemeinschaften unterschiedlich gehandhabt. Sehr häufig stellen die Mitglieder ihren Ernteanteil selbst zusammen. Die Landwirte bereiten dafür jede Woche eine neue Liste vor, auf der steht, wie viel sich jede*r nehmen kann. Einige wenige Solawis verteilen nach dem Bedarfsprinzip: Jede*r nimmt was er oder sie braucht – ohne starre Mengenzuteilung.
Landwirtschaft heute, das bedeutet für die Menschen, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen, in aller Regel vielfältige und kaum beeinflussbare Abhängigkeiten: von den Subventionen der Europäischen Union zum Beispiel, und natürlich von Marktpreisen, die oft genug Weltmarktpreise sind. Das bedeutet für die meisten: entweder die Natur oder sich selbst auszubeuten, oft sogar beides. Auch der ökologische Landbau ist von diesen Zwängen leider nicht ausgenommen.
Solidarische Landwirtschaft stellt im Gegensatz dazu die Existenz der in landwirtschaftlichen Betrieben arbeitenden Menschen sicher, weil sie auf einen festen, von den Marktzwängen völlig unabhängigen Finanzierungsbeitrag vertrauen können. Sie erhalten ein sicheres Einkommen und eine Planungssicherheit, die es ihnen ermöglicht, sich ganz der landwirtschaftlichen Praxis zu widmen. Von Marktzwängen unabhängig, können sie auch mit neuen Anbauformen experimentieren. Ein Solawi-Betrieb kann deshalb eine größere Produkt-Vielfalt anbieten, zum Beispiel seltene Gemüsesorten. Und – ganz wichtig! – es wird dort nichts weggeworfen: Was ansonsten wegen eventuell nicht eingehaltener „Marktnormen“ auf dem Müll landen würde, findet hier dennoch den Weg auf die Teller. Aber auch der Arbeitsalltag sieht anders aus als in der Landwirtschaftsbranche sonst üblich: er bietet mehr Freizeit und Urlaub.
Zusammengefasst heißt solidarische Landwirtschaft also, dass eine Gruppe die Abnahme der Erzeugnisse garantiert und die Ernte bzw. alles, was notwendig ist, um diese zu erzeugen, vorfinanziert. Diese Gruppe erhält die gesamte Ernte und teilt sie gerecht untereinander auf. Die in der Landwirtschaft Beschäftigten erhalten dafür ein garantiertes Einkommen. Sowohl die Lebensmittel als auch das Einkommen sind von Marktzwängen abgekoppelt, nicht mehr „warenförmig“. Die Verantwortung, das Risiko, das die landwirtschaftliche Produktion mit sich bringt (z.B. schlechte Ernte auf Grund von Witterungsbedingungen), die Kosten und die Ernte werden solidarisch geteilt – eine „Win-Win-Situation“ für alle Beteiligten. Im besten Fall entwickelt sich eine Solawi-Gemeinschaft zur Keimzelle und zum Kristallisationskern für weitere Projekte, für Tauschringe beispielsweise, für Nachbarschaftscafés oder – sehr naheliegend – zum gemeinsamen Einmachen von Obst und Gemüse.
Mittlerweile gibt es in Deutschland mehr als 180 solcher Gemeinschaften[3], viele von ihnen haben sich im Netzwerk Solidarische Landwirtschaft zusammengeschlossen. Der älteste von ihnen ist der Buschberghof, ein Demeter-Betrieb, der bereits Ende der 1960er Jahre auf anthroposophischer Grundlage von dem Landwirt Trauger Groh und dem Gründer der GLS-Bank, Wilhelm Ernst Barkhoff, gegründet wurde. Viele andere SoLaWi-Betriebe sind jedoch erst in den letzten Jahren entstanden.
Zum Beispiel: das Kartoffelkombinat in München[4]
Das in Bayern (und wohl sogar in ganz Deutschland) größte und ambitionierteste Projekt solidarischer Landwirtschaft ist das Kartoffelkombinat in München. Hinter diesem Namen versteckt sich eine Genossenschaft[5], die mittlerweile (Stand 2018) rund 1.400 Haushalte mit saisonalem und regionalem Gemüse (und natürlich nicht nur mit Kartoffeln!) versorgt. Seit der Gründung im Jahr 2012 ist die Genossenschaft kontinuierlich gewachsen. Inzwischen verfügt sie über eine eigene Biogemüse-Gärtnerei (eine Naturland-Gärtnerei in Spielberg bei Mammendorf, ca. 30 km westlich von München) mit einer Anbaufläche von sieben Hektar (zu der noch weitere 11 ha dazu gepachtet wurden). Seither konnte die Genossenschaft ihre Eigenanbauquote von 50% auf ca. 80% steigern. Inklusive des Gärtnereikaufs hat das Kartoffelkombinat in die Infrastruktur in Spielberg knapp 1,1 Mio. Euro investiert. In 2018 kommen nochmals rund 180.000 Euro dazu. Bis zum Jahr 2020 soll die Zahl der versorgten Haushalte noch auf 1.600 ansteigen. Die Genossenschaft beschäftigt inzwischen über 20 bezahlte Mitarbeiter*innen in der Gärtnerei, Organisation und Logistik.
Ziel der Genossenschaft ist es, eine selbstverwaltete und nachhaltige Struktur für die Lebensmittelversorgung, gemeinwohl- statt profitorientiert, aufzubauen. Das Kartoffelkombinat wirtschaftet ausschließlich mit Erzeugnissen, die vegetarisch sind, aus der Region stammen und ökologisch erzeugt wurden. Auch Verpackung, Lagerung und Transport werden möglichst umweltfreundlich abgewickelt.
Alle Mitglieder der Genossenschaft leisten eine einmalige Kapitalbeteiligung von 150 Euro (wobei weitere Anteile gezeichnet werden können). Mitglieder ohne Ernteanteil (die die Genossenschaft sozusagen ideell und materiell unterstützen wollen) haben volle Mitbestimmungsrechte und zahlen einen jährlichen Beitrag von 30 Euro. Die Mitglieder, die mit einem wöchentlichen Ernteanteil in Form einer bunten Gemüsekiste beliefert werden, zahlen 68 Euro im Monat für die dafür entstehenden Kosten. Um den Kauf des eigenen Betriebs zu finanzieren, wird zusätzlich (für drei Jahre) eine Aufbau-Umlage erhoben, die zunächst 8 €/Monat betrug und sich ab 01.07.2018 auf ca. 7 €/Monat beläuft.
Zum Beispiel: Solawi in Bamberg
Im Vergleich zur Kartoffelkombinat-Genossenschaft ist das Solawi-Projekt in Bamberg[6] noch klein und jung. Doch gerade daran lässt sich zeigen, wie schnell ein solches Projekt von engagierten Menschen auf die Beine gestellt und erfolgreich zum Laufen gebracht werden kann. Die Idee dafür entstand in der Bamberger "Transition"-Gruppe, deren Ziel es ist, den Wandel hin zu einer solidarischen, nachhaltigen und lebenswerten Gesellschaft mitzugestalten.
Als Träger des Projekts wurde der gemeinnützige Verein SoLaWi Bamberg e.V. gegründet. Dieser fungiert als Arbeitgeber für den angestellten Gärtner. Um als Ernteteiler in den Genuss des angebauten Gemüses zu kommen, ist eine Mitgliedschaft im Verein jedoch keine Voraussetzung. Nach einer Crowdfunding-Aktion, die rund 8.000 Euro als Startkapital für das Projekt eingebracht hatte, konnten Geräte und Folientunnel sowie Wasserleitungen für das Feld gekauft werden. Die Anbaufläche, die direkt neben dem Areal der Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau liegt (die das Projekt auch wissenschaftlich begleitet), wird von dem beim Verein angestellten Gärtner bewirtschaftet. Für einzelne Pflanz- und Ernteaktionen wird er dabei immer wieder von Freiwilligen aus dem Kreis der Ernteteiler*innen unterstützt.
Seit Anfang des Jahres 2018 ist die Bamberger Solawi aktiv. Es gibt 70 Ernteteiler*innen, altersmäßig und sozial bunt gemischt. Je nach Bedarf haben sich die einzelnen Ernteteiler für einen großen oder einen kleinen Ernteanteil entschieden. Für den großen sind pro Monat 70 Euro zu bezahlen, ein kleiner Ernteanteil (der für ein Paar oder eine kleine Familie locker ausreichend ist) kostet 35 Euro. Da die Nachfrage groß ist, wird im kommenden Jahr die Anbaufläche (auf dann rund 1,2 ha, davon 250 m² unter einem Folientunnel) vergrößert, sodass auch der Kreis der Ernteteiler*innen wachsen kann.
Die Vielfalt der Solawi-Projekte ist immens - kein Wunder, werden doch Selbstorganisation und Eigenverantwortung groß geschrieben. So sucht und findet jedes Projekt die für die jeweiligen Rahmenbedingungen passenden Regeln und Organisationsformen. Und neben Neugründungen auf gepachtetem oder gekauften landwirtschaftlichen Flächen gibt es auch etliche schon bestehende Höfe, die sich vom Markt abkoppeln und als Solawi-Betriebe direkt mit den Verbraucher*innen zusammenschließen wollen, um den Unwägbarkeiten der landwirtschaftlichen Produktion und des Marktes zu entgehen. Allen gemein ist jedoch der Wille, sich als lokale Gemeinschaften direkt mit Lebensmitteln zu versorgen und auf diese Weise ein Stück dem Ziel der „Ernährungssouveränität“ näher zu kommen.
Links und Hinweise:
Solawi-Netzwerk: https://www.solidarische-landwirtschaft.org/startseite/
Film „Bauer sucht Crowd – Ernährungssouveränität in Österreich“. ORF 26.07.2015 (YouTube)
Birgit Blättel-Mink/Alexandra Rau/Sarah Schmitz: Solidarische Landwirtschaft. In: zukunftsInstitut 09/2015 (online)
Ulrike Meyer-Timpe: Solidarische Landwirtschaft: Brauchen Lebensmittel einen Preis? In: ZEIT ONLINE, 28.04.2015
Kirsten Zesewitz: Solidarische Landwirtschaft: Mit Verbrauchern produzieren. In: Bayern 2, 18.10.2018
Heidi Friedrich: Solidarische Landwirtschaft - Hauptsache, die Kosten sind gedeckt. In: ZEIT ONLINE, 19.04.2017
[1] Vgl. dazu Solidarische Landwirtschaft: Wenn Verbraucher und Landwirte gemeinsam aktiv werden. In: Bundeszentrum für Ernährung (online); Was ist solidarische Landwirtschaft? In: Solidarische Landwirtschaft – sich die Ernte teilen (online). Hier finden sich jeweils auch Hinweise, die für die Gründung von neuen Solawi-Projekten nützlich sein können.
[2] Eine – sicher nicht vollständige – Übersicht über die Solawi-Betriebe in Deutschland findet sich auf der Homepage des Netzwerks Solidarische Landwirtschaft und auf dieser Landkarte.
[3] Elisabeth Voss: Solidarische Landwirtschaft: Ernährungssouveränität selbst machen. In: OXI – Wirtschaft anders denken, 02.05.2018
[4] Sehr instruktiv ist die Lektüre der kleinen Chronologie des Kartoffelkombinats, die sich auf der Homepage der Genossenschaft findet. Einen visuellen Eindruck vermittelt ein Video auf Vimeo.
[5] Neben der Genossenschaft existiert seit April 2016 der gemeinnützige „Kartoffelkombinat – der Verein e.V.“, ein Förderverein, dessen Ziel es ist, Projekte und Aufgaben zu finanzieren, die zwar im Interesse des Kartoffelkombinats liegen, aber nicht direkt zu den ursächlichen Aufgaben der Genossenschaft gehören. Dazu zählen die „Erforschung von Rahmenbedingungen einer Postwachstumsgesellschaft und Erarbeitung von gemeinwohlorientierten Subsistenzkonzepten für eine regionale Versorgungsstruktur“ und die „Kartoffelakademie“ mit entsprechenden Bildungsveranstaltungen.
[6] Vgl. auch Sebastian Martin: Solidarische Landwirtschaft. 70 Bamberger unterstützen einen Gärtner. In: inFranken.de, 13.09.2018