Wenn die Frage nach dem guten Leben sozusagen die Weihe regierungsamtlicher Relevanz verliehen bekommt, dann ist das natürlich für uns als Betreiberin einer Website, die sich genau dieser Frage widmet, zunächst ein Grund zur Freude. Und genau das ist jetzt geschehen: mit der Veröffentlichung des Berichts der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland. Die Freude ist jedoch merklich (sic!) gedämpft – nachdem wir ein bisschen im Bericht geblättert haben…
von Dr. Gerd Rudel
Wenn die Frage nach dem guten Leben sozusagen die Weihe regierungsamtlicher Relevanz verliehen bekommt, dann ist das natürlich für uns als Betreiberin einer Website, die sich genau dieser Frage widmet, zunächst ein Grund zur Freude. Und genau das ist jetzt geschehen: mit der Veröffentlichung des Berichts der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland(1). Die Freude ist jedoch merklich (sic!) gedämpft – nachdem wir ein bisschen im Bericht geblättert haben…
Dabei geht es doch ganz gut los: „Lebensqualität ist eng verbunden mit der Frage nach dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.“ (S. 4) Ausgehend von dieser - kaum bestreitbaren – Erkenntnis könnte und sollte man ja konsequenterweise schauen, welches Wirtschaftssystem wie und in welchem Ausmaß zum guten Leben beiträgt. Sprich: bei der Beantwortung dieser Fragen mögliche Alternativen diskutieren. Von einer deutschen Bundesregierung darf dies wohl eher nicht erwartet werden: Im Regierungsbericht wird die Frage gleich mit einem „Basta“ beantwortet, für das kein Widerspruch geduldet wird: „Soziale Marktwirtschaft“ à la Erhard heißt die Devise – und sonst nix. Dass diese in neoliberalen Zeiten längst zur Schimäre verkommen ist: geschenkt!
Das Fatale daran aber ist, dass man sich mit solchen ideologischen Festlegungen das Denken selbst verbietet. Welchen Sinn dann ein – eigentlich ja begrüßenswerter – Konsultationsprozess mit den Bürger*innen noch haben soll, bleibt offen. Und deshalb ist das grundlegende Manko an diesem Bericht: Die Vorstellungen von einem „guten Leben“, die die Bürger*innen in einem breiten und ergebnisoffenen Bürgerdialog beschreiben konnten, bleiben für die Politik letztlich folgenlos. Den Rahmen dessen, was sich eine „Große Koalition“ vorzustellen vermag, eben jene „Soziale Marktwirtschaft“, dürfen sie ohnehin nicht sprengen.
Welche Folgen dies hat, fällt sofort auf, wenn man die zwölf Dimensionen und 46 Indikatoren betrachtet (2), in denen der Bericht die Bürgerkonsultation „verdichtet“. Ohne hier ins Detail gehen zu können, sei nur auf einige wenige Probleme hingewiesen:
- Obwohl „gute Arbeit“ und „gerechte Teilhabe“ im Konsultationsprozess eine wichtige Rolle spielten, fehlt ein Indikator, mit dem sich vor allem die „Gerechtigkeit“ operationalisieren ließe.
- Bei der Dimension „Wirtschaft“ fällt der Kriterienkatalog deutlich hinter den eigenen Anspruch zurück, die Qualitätsfrage in den Mittelpunkt zu stellen: Aufgeführt werden lediglich die mehr oder weniger üblichen quantitativen Indikatoren.
- Völlig „unterbelichtet“ bleibt der Aspekt der globalen Friedenssicherung: Er kommt zwar bei den Dimensionen noch vor, wird in den Kriterien überhaupt nicht operationalisiert. Ähnliches gilt für Klimawandel bzw. die Maßnahmen, die dagegen zu ergreifen wären. Fast schon witzig (wenn’s nicht so traurig wäre) in diesem Zusammenhang ist der Eintrag zur „globalen unternehmerische Verantwortung“. Dort existiert nämlich nur ein „Platzhalter“ und die Anmerkung „Derzeit gibt es keinen geeigneten Indikator, um globale unternehmerische Verantwortung abzubilden.“ Tja…
- Geradezu blutleer sind die Kriterienkataloge, wenn es um sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Solidarität geht. Aber auch bei den Umweltfragen tauchen wichtige Indikatoren (z.B. der Anteil der erneuerbaren Energien oder der Fleischkonsum und die Massentierhaltung) erst überhaupt nicht auf.
- Genderfragen gibt es offenbar in Deutschland nicht mehr: Weder beim Einkommen oder beim Risiko der Altersarmut noch bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder bei den Familienformen taucht dieser Aspekt auch in nennenswerter Weise auf.
- Ein für die Frage nach dem guten Leben so eminent wichtiger Bereich wie die Mobilität existiert weder in den Dimensionen noch in den Kriterien als relevanter Aspekt. Kaum zu glauben, aber wahr!
Das entscheidende Defizit neben der völlig ungenügenden Operationalisierung dessen, was man denn unter einem „guten Leben“ verstehen müsse, ist aber die Tatsache, dass aus der umfangreichen „Stoffsammlung“ im Rahmen des Konsultationsprozesses politisch überhaupt keine Konsequenzen gezogen werden. Die Bundesregierung stellt nämlich dem, was für die Bürgerinnen und Bürger Lebensqualität ausmacht, lediglich eine mit vielen, vielen Statistiken unterfütterte Zustandsbeschreibung dessen gegenüber, wie die gesellschaftliche Realität derzeit aussieht und was die Bundesregierung bereits macht. Ob darüber hinaus weitere Maßnahmen notwendig sind, um dem guten Leben in der Bundesrepublik etwas näherzukommen, und – falls ja – wie diese Maßnahmen denn aussehen müssten, darüber schweigt sich die Regierung vornehm aus.
Bleibt als Fazit und unter dem Strich: eine gut gemachte (wahrscheinlich mit sehr viel Geld!) Website (3) mit vielen interaktiven Grafiken zum Ist-Zustand der Republik und ansonsten viele offene Fragen!(4)
_____________________
Anmerkungen:
(1) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland. Berlin, Oktober2016
(2) Siehe dazu die grafische Übersicht: ebd., S. 16/17.
(3) Siehe: https://buergerdialog.gut-leben-in-deutschland.de/ und https://www.gut-leben-in-deutschland.de/static/LB/
(4) Vgl. dazu auch Hermann E. Ott / Matthias Zimmer: Einheitsbrei und Lebensqualität. Blog Postwachstum, 12.12.2016. Online: http://www.postwachstum.de/author/hermann-e-ott-und-matthias-zimmer
Weitere Quellen:
Annie Waldherr / Sophia Ostner / Lars-Ole Müller / Peter Miltner / Daniela Stoltenberg / Patrick Sona / Barbara Pfetsch: Wissenschaftliche Auswertung von Bürger- und Online-Dialogen zum Thema Lebensqualität in Deutschland. Berlin, März 2016