Das neue Jahrtausend bescherte uns auch einen neuen verfassungspolitischen Ansatz: Am Ende des ersten Jahrzehnts fand eine Regelung in die Verfassungen Boliviens und Ecuadors Eingang, die unter dem Begriff "Buen Vivir" (= gutes Leben) auch in Europa bekannt und als mögliche Alternative zur wachstums- und profitorientierten Wirtschaftsweise der kapitalistischen Industriestaaten diskutiert wurde.
von Dr. Gerd Rudel
Der Hintergrund: Rafael Correa gewann 2006 in Ecuador die Präsidentschaftswahl, Evo Morales war gleiches bereits 2005 in Bolivien gelungen. Unter ihren linksorientierten Regierungen wurde in beiden Ländern ein umfassender Beteiligungsprozess zur Neuformulierung der jeweiligen Verfassungen in Gang gesetzt, in den auch die indigenen Bevölkerungsgruppen stark einbezogen waren. In diesen Verfassungen hat das "Buen Vivir" – das Recht auf gutes Leben und die Rechte der Natur – Verfassungsrang erhalten. Auf der Suche nach neuen Leitbildern, die die Abkehr von Neoliberalismus und den Neuanfang nach autoritären Regimes und wirtschaftlicher Ausbeutung anleiten sollen, berufen sich beide Länder auf die indigene Tradition der Anden. «Sumak Kawsay» ist das Quechua-Wort, das mit «Buen Vivir» («Gutes Leben») auf Spanisch übersetzt wird.
Das "Buen Vivir" stellt das menschliche Zusammenleben nach ökologischen und sozialen Normen ins Zentrum seiner Philosophie. Gutes Leben bedeutet in diesem Kontext mehr als wirtschaftliches Wachstum und materieller Wohlstand. Zentral ist ein gemeinschaftliches Leben im Einklang mit und nicht auf Kosten der Natur und anderer Menschen sowie die Wahrung kultureller Identitäten. "Buen Vivir zielt nicht auf «mehr haben», auf Akkumulation und Wachstum, sondern auf einen Gleichgewichtszustand. Zentral ist also der Bezug auf die indigene Weltvorstellung: Nicht Fortschritt oder Wachstum als lineares Denkmodell sind der Ausgangspunkt, sondern die Produktion und Reproduktion eines Gleichgewichtszustandes des Sumak Kausay."(1)
Insofern kann dieses Konzept als ein Bruch mit der Verwertungs- und Wachstumslogik des Kapitalismus verstanden und auch als mögliche Orientierung für westliche Industriestaaten gelten, die auf der Suche nach Auswegen aus den gegenwärtigen ökologischen und ökonomischen Krisen sind.
Fraglich ist allerdings, ob es diesen Ländern in der aktuellen Tagespolitik, bei ganz konkreten Entscheidungen, gelingt, sich wirklich an dem Leitbild des "Buen Vivir" zu orientieren und seiner Umsetzung näher zu kommen. Verfassungen stellen zunächst einmal nur normative Orientierungen zur Verfügung, sie machen aus den jeweiligen Ländern jedoch nicht umstandslos Inseln der Seligen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Situation in Bolivien und Ecuador nach wie vor von Konflikten und Widersprüchen geprägt ist.
Angesichts der faktischen Abhängigkeitsverhältnisse dürften erhebliche Zweifel anzumelden sein, ob es beispielsweise wirklich gelingen wird, den Umgang mit Natur und Bodenschätzen im Sinne des Buen Vivir zu verändern. Am Beispiel der Lithium-Reserven in Bolivien und der Öl-Vorkommen im Yasuní Nationalpark, mitten im Regenwaldgebiet Ecuadors, wird sich dies sehr schnell erweisen.
Doch unabhängig vom Ausgang dieser konkreten Konflikte bietet das Konzept des Buen Vivir doch etliche Anknüpfungspunkte für grundlegende Überlegungen, wie eine Alternative für die westlich-kapitalistischen Gesellschaften aussehen könnte - und zwar ohne in eine "Romantisierung" indigener Lebensweise zu verfallen.
Anmerkungen und weiterführende Links:
(1) Fatheuer 2011, S. 16f.
Altmann, Philipp: Das Gute Leben als Alternative zum Wachstum? Der Fall Ecuador. Sozialwissenschaften und Berufspraxis 36 (1-2013), S. 101-111
Fatheuer, Thomas: Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. Berlin, Heinrich-Böll-Stiftung 2011
Gudynas, Eduardo: Buen Vivir. Das gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum. Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2012
Poma, Muruchi: Vivir Bien ("Gut leben"). Zur Entstehung und Inhalt des "Guten Lebens". In: amerika21 - Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika, 25.11.2011
ATTAC-Themenseite zum Buen vivir (dort auch etliche weiterführende Links!)